Neuronales Netz entschlüsselt Gravitationswellen von verschmelzenden Neutronensternen sekundenschnell

Maschinelle Lernmethode könnte die Multi-Messenger-Astronomie revolutionieren

5. März 2025

Verschmelzungen von zwei Neutronensternen zu beobachten, steht ganz oben auf der Wunschliste von Astronom*innen. Diese Kollisionen von exotischen, kompakten Sternüberresten senden zuerst Gravitationswellen und dann Licht aus. Sie bieten einzigartige Möglichkeiten, Schwerkraft und Materie unter Extrembedingungen zu untersuchen. Um diese Beobachtungen bestmöglich zu nutzen und keine wichtigen Signale zu verpassen, ist Schnelligkeit entscheidend. In einer heute in Nature veröffentlichten Studie stellt ein interdisziplinäres Forschungsteam eine neuartige Methode maschinellen Lernens vor. Sie kann Gravitationswellen von Neutronensternkollisionen blitzschnell analysieren – noch bevor die Verschmelzung vollständig beobachtet wird. Ein neuronales Netzwerk verarbeitet die Daten und ermöglicht eine schnelle Suche nach sichtbarem Licht und anderen elektromagnetischen Signalen, die während der Kollisionen ausgesendet werden. Diese neue Methode könnte eine wichtige Rolle dabei spielen, das Feld für die nächste Generation von Observatorien vorzubereiten.

Verschmelzungen von Doppelneutronensternen finden Millionen von Lichtjahren von der Erde entfernt statt. Die dabei erzeugten Gravitationswellen zu verstehen, stellt eine große Herausforderung für herkömmliche Datenanalyse-Methoden dar. Diese Signale umfassen bei derzeitigen Detektoren einige Minuten und bei zukünftigen Observatorien möglicherweise Stunden bis Tage an Daten. Die Analyse solch umfangreicher Datensätze ist rechenintensiv und zeitaufwändig.

Ein internationales Team von Wissenschaftler*innen hat einen Algorithmus für maschinelles Lernen mit der Bezeichnung DINGO-BNS (Deep INference for Gravitational-wave Observations from Binary Neutron Stars) entwickelt. Er spart kostbare Zeit bei der Interpretation von Gravitationswellen, die bei der Verschmelzung zweier Neutronensterne entstehen. Die Forschenden trainierten ein neuronales Netz, um Systeme verschmelzender Neutronensterne in rund einer Sekunde vollständig zu charakterisieren. Die schnellsten herkömmlichen Methoden benötigen dafür etwa eine Stunde. Ihre Ergebnisse werden heute in Nature unter dem Titel „Real-time inference for binary neutron star mergers using machine learning“ veröffentlicht.

Warum sind Echtzeitberechnungen wichtig?

Bei der Verschmelzung von Neutronensternen werden neben den Gravitationswellen auch sichtbares Licht (bei der anschließenden Kilonova-Explosion) und weitere elektromagnetische Strahlung ausgesandt. „Eine schnelle und genaue Analyse der Gravitationswellen-Daten ist entscheidend, um die Quelle zu lokalisieren und Teleskope so schnell wie möglich auszurichten, um alle zugehörigen Begleitsignale zu beobachten“, sagt Maximilian Dax, Doktorand in der Abteilung Empirische Inferenz am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme (MPI-IS) und Erstautor der Publikation.

Bei der Verschmelzung von Neutronensternen werden neben den Gravitationswellen auch sichtbares Licht (bei der anschließenden Kilonova-Explosion) und weitere elektromagnetische Strahlung ausgesandt.

Jets und Trümmer von einer Neutronensternkollision

Bei der Verschmelzung von Neutronensternen werden neben den Gravitationswellen auch sichtbares Licht (bei der anschließenden Kilonova-Explosion) und weitere elektromagnetische Strahlung ausgesandt.
https://www.youtube.com/watch?v=e7LcmWiclOs

Die Echtzeit-Methode könnte einen neuen Standard für die Datenanalyse von Neutronenstern-Verschmelzungen setzen und Astronom*innen mehr Zeit geben, ihre Teleskope auf die verschmelzenden Neutronensterne auszurichten, sobald die großen Detektoren der LIGO-Virgo-KAGRA (LVK)-Kollaboration diese Signale aufspüren.

„Die Algorithmen zur Echtzeit-Analyse, die die LVK-Kollaboration derzeit verwendet, verwenden Näherungen, die auf Kosten der Genauigkeit gehen. Unsere neue Studie behebt diese Schwächen“, sagt Jonathan Gair, Gruppenleiter in der Abteilung Astrophysikalische und Kosmologische Relativitätstheorie am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik im Potsdam Science Park.

Ganz ohne solche Näherungsverfahren charakterisiert die maschinelle Lernmethode Verschmelzungen von Neutronensternen (z. B. ihre Masse, ihre Rotation und ihre Position) in nur einer Sekunde vollständig. Dies ermöglicht es unter anderem, die Position am Himmel um 30 % genauer zu bestimmen. Weil das neuronale Netz so schnell und genau arbeitet, kann es wichtige Informationen für gemeinsame Beobachtungen von Gravitationswellen-Detektoren und anderen Teleskopen liefern. Es kann helfen, nach sichtbarem Licht und anderen elektromagnetischen Signalen zu suchen, die bei der Verschmelzung entstehen.

„DINGO-BNS soll uns dabei helfen, die kostbare Beobachtungszeit der Teleskope bestmöglich zu nutzen“, erklärt Nihar Gupte, Doktorand in der Abteilung Astrophysikalische und Kosmologische Relativitätstheorie am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik.

Verschmelzende Neutronensterne auf frischer Tat ertappen

„Die Analyse der Gravitationswellen von Doppelneutronensternen ist besonders anspruchsvoll, sodass wir für DINGO-BNS verschiedene technische Innovationen entwickeln mussten. Dazu gehört zum Beispiel eine Methode zur Datenkompression, die sich den Ereignissen anpasst“, sagt Stephen Green, UKRI Future Leaders Fellow an der Universität Nottingham. Bernhard Schölkopf, Direktor der Abteilung Empirische Inferenz am MPI-IS, ergänzt: „Unsere Studie zeigt, wie effektiv es ist, moderne maschinelle Lernmethoden mit physikalischem Fachwissen zu kombinieren.“

DINGO-BNS könnte eines Tages helfen, elektromagnetische Signale vor und zum Zeitpunkt der Kollision zweier Neutronensterne zu beobachten. „Solche frühen Multi-Messenger-Beobachtungen könnten neue Erkenntnisse über den Verschmelzungsprozess und die anschließende Kilonova liefern, die immer noch nicht vollständig verstanden sind“, sagt Alessandra Buonanno, Direktorin der Abteilung Astrophysikalische und Kosmologische Relativitätstheorie am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik.

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